Malentwicklung

Erinnerung

Ich erinnere mich an einen Tag im Kindergarten. Wir durften malen. Es sollte ein Bild eines kürzlichen Erlebnisses in der Natur zeigen. Alle Kinder malten bereits. Ich überlegte noch über welches Ereignis ich etwas malen wollte und bekam langsam inneren Druck, weil die anderen teilweise schon das halbe Blatt bemalt hatten. Ich zwang mich zu einer Entscheidung und wählte den Spaziergang durch eine Wiese mit Apfelbäumen. Mit großer Gründlichkeit begann ich jeden einzelnen Grashalm auf dem unteren Ende meines Blattes zu zeichnen und war über die wachsende „Wiese“ sichtlich begeistert. Die Tatsache dass einige Kinder schon fast fertig waren bremste meinen Eifer nicht. Ich hatte etwa die Hälfte meines Blattes mit feinen und fast parallel verlaufenden Grashalmen verziert als meine Kindergärtnerin (damals nannte man sie noch so) mir den Stift aus der Hand nahm, parallel zum Rand des unteren Blattes einen geraden grünen Strich malte und mir zufrieden den Stift zurück gab. Ich vermute, ich habe sie mit einem entsetzten Gesichtsausdruck angesehen, da sie mir sofort erklärte sie wollte mir nur helfen. Würde ich jeden Grashalm einzeln abbilden wollen, würde mein Bild nie fertig werden.

Malen ist eine Ausdrucksform

Malen ist für Kinder wie sprechen ohne Worte. Sie zeigen mithilfe von Farbe, Papier und einem Bewegungsimpuls ihre Gefühle. Dabei sollte Bewertung (Lob oder Kritik) keine Rolle spielen.

Auch viele Jahre nach dem oben beschriebenen Erlebnis erinnere ich mich an seine Wirkung. Sie hat mein Bild kaputt gemacht. Wie kann sie nur meine Motivation das ganz genau machen zu wollen nicht verstehen. Wieso ist ein ungenaues fertiges Bild mehr wert? Sie schätzt mein Bild nicht. Ihr gefällt meine Art zu malen nicht. Ich gefalle ihr nicht. Meine Art zu malen ist anders. Ich bin anders. Sie mag mich nicht. Ich mache das nicht richtig. Ich bin nicht richtig. Meiner Wut, meiner Fassungslosigkeit, meiner Verzweiflung und der Enttäuschung nicht dazu zu passen konnte ich damals natürlich keinen Ausdruck verleihen noch verstand ich, das es völlig normal ist individuell zu sein.

Wenn ein Kind malt, nimmt es die Realität ein Stück weit auseinander und setzt sie neu zusammen, sozusagen wie in einem Traum. Es handelt sich um eine Art Verdauungsprozess und darf nicht im Kontext von Nutzen stehen oder bewertet werden sagt Diplom-Kunsttherapeutin Kristina Matthiesen.

Warum uns eine natürliche Malentwicklung wichtig ist

Die vorbereitete Umgebung bedeutet für das Malen, dass ein Raum kreiert wird in dem Kreide und Stifte altersgerecht zur Verfügung stehen, dass die Kinder wählen können ob sie auf einem Stuhl sitzend oder auf dem Boden sitzend oder liegend malen wollen. Die Bedürfnisorientierung in unserem Konzept ergänzt das dadurch, dass die Kinder selbst entscheiden ob sie beobachten oder aktiv werden wollen und auch wie lange sie dabei bleiben und ob sie überhaupt dabei sein wollen. Darf das Kind sein Malen selber entwickeln ist in der Regel ein deutlicher Unterschied in der Führung und Handhaltung der Kreide zu erkennen. Manche Kinder verwenden mehr Druck, andere weniger. In der Umsetzung bei uns bedeutet es, dass wir weder die Haltung der Kreide oder des Stiftes korrigieren noch den eingesetzten Druck.

In einer bestimmten Phase der Malentwicklung beginnen die Kinder zu erzählen was sie gemalt haben. In der Umsetzung bei uns legen wir Wert darauf, sie erklären zu lassen und auch nachzufragen. Wir verzichten darauf den Kinder zu sagen was wir in ihrem Bild „sehen“ (erkennen können). Wir bewerten nicht was die Kinder malen, wir greifen nicht in ihr Werk ein oder malen für sie.

Wenn Kinder hören wie schön ein Erwachsener ein Bild eines Kindes findet, motiviert sie das auch ein Bild zu malen, welches die selben lobenden Worte erhält. Die Motivation ist dann nicht mehr die Freude am Malen. Die Befriedigung wird nicht durch das Erschaffen generiert. Der Focus liegt nicht mehr auf der Selbstwertschätzung sondern auf einer Anerkennung im Außen.

Beispiele aus unserem Alltag in der Krippe

Ein älteres Mädchen benannte, was es gemalt hat und kündigte daraufhin an, was es als nächstes vor hat zu malen.

Wir versehen die einzelnen Werke mit einem separaten Zettel auf welchem wir den Namen des Erzeugers, das Datum der Herstellung und gegebenenfalls einer Geschichte zum Bild notieren.

Hier noch ein paar Beispiele zur Phase des Kreiskritzelns…

Die verschiedenen Phasen der Malentwicklung

Das Spurschmieren mit breiartigen Substanzen ist meist die erste Form des Malens, welche aus der Bewegungsfreude der Kinder hervor geht. Auch das hinterlassen von Spuren mit Stöcken gehört in diese Phase der Malentwicklung. Aus der Freude an der Bewegung und dem Wunsch weitere Spuren zu hinterlassen generiert das Kind selbständig das, was wir Erwachsene üben nennen und wechselt dadurch irgendwann in die Kritzelphase. Meist wird die Kreide oder der Stift in der Faust gehalten und es entstehen erstmals Muster. In dieser Phase befinden sich die Muster häufiger neben den dafür vorgesehenen Flächen und es scheint, als ob der Prozess wichtiger ist als das Ergebnis. Beim Hiebkritzeln entstehen bereits kleinere Striche mit einer Bewegung aus der Schulter heraus und der Zusammenhang zwischen den Bewegungen und den hinterlassenen Spuren ist für das Kind erkennbar. In der nächsten Phase werden die Striche etwas länger und dichter und sie wird Schwingkritzeln genannt. Dabei bewegt sich der Unterarm. Da das Kind den Stift ab- und erneut aufsetzen schafft verlaufen die Striche in alle Richtungen und meist platziert das Kind sein Malergebnis in der Mitte des Blattes. Anschließend folgen erstmals rundere Formen wie Spiralen oder sogenannte Urknäule die man als Kreiskritzeln betitelt. In der nächsten Stufe wird aus senkrechten und waagerechten Linien ein Kreuz geformt. Zum Abschluss dieser Phase fängt das Kind an, seinem Bild eine Bedeutung zu geben und seine Zeichnung zu kommentieren. Häufig ist das beschriebene nur für das Kind sichtbar. In einer weiteren Phase entwickelt das Kind den sogenannten Kopffüßer, einen Kreis mit tentakelartigen Beinen, manchmal auch Armen ohne Rumpf oder Bauch gefolgt von der sogenannten Vorschemaphase, in der das Kind seinem Bild Bäume, Häuser oder Autos hinzufügt. Es beginnt die Phase, in der die Zeichnung geplant wird, das Kind weiß vor der Entstehung des Bildes was es malen möchte. Außerdem wird das gemalte detaillierter. Menschen erhalten z. B. Ohren oder Finger wobei die Proportionen selten realistisch sind. Manche gehen davon aus, das die Größe auf deren Wichtigkeit für das Kind schließen lassen. In der Schemaphase werden Arme und Beine bereits mit Doppellinien dargestellt und sogenannte Röntgenbilder entstehen, wenn das Kind mehrere Schichten eines Gegenstandes abbildet, der nicht durchsichtig ist wie z. B. ein Haus dessen Innenleben zu erkennen ist.

Die Entwicklung der Kinderzeichnung

Autonome Entwicklung

Wie gelingt es, dass sich Kinder im eigenen Rhythmus und mit den in ihnen angelegten Ressourcen möglichst frei entfalten können?

Viele Fragen die wir beim letzten Elternabend in die Runde bekamen werden in dem Artikel von Renate Delpin („Mit Kindern wachsen“, Januar 2011) leicht verständlich erklärt.

ENTWICKLUNG BRAUCHT ZEIT

Entwicklung lässt sich nicht beschleunigen, nicht erzwingen, zumindest nicht ohne dabei die Selbstwirksamkeit des Kindes einzuschränken oder zu behindern. Selbstwirksamkeit aber, die Erfahrung, mit den im Augenblick vorhandenen, eigenen Möglichkeiten zu handeln, zu gestalten, etwas umsetzen zu können, ist wesentlich, um im Einklang mit sich und mit den anderen zu sein und ein Gefühl der Sinnhaftigkeit zu erleben. Es gibt den bekannten und stimmigen Vergleich mit dem Wachstum der Pflanzen. An ihnen zu ziehen, um sie schneller zur Reife zu bringen, ist fatal.

ENTWICKLUNGSBEGLEITUNG DURCH ERWACHSENE

Emmi Pikler und Arno Stern haben in ihren Forschungen und in ihrer Arbeit, ihrem Leben mit Kindern, sehr genau wahrgenommen, in welcher Weise eine autonome Entwicklung stattfinden kann und welche Begleitung Kinder von Erwachsenen brauchen. Ihre Beobachtungen sollen deshalb hier beschrieben und zitiert werden.

Emmi Pikler beschäftigte sich vor allem mit der Bewegungsentwicklung im Säuglings-und Kleinkindalter und stellte fest, dass jeder Säugling über ein angeborenes Entfaltungspotential verfügt, das mit kleinen zeitlichen Ab­weichungen bei allen Kindern sehr ähnlich verläuft. In der Bewegungsentwicklung bedeutet das unter anderem, dass der Säugling vom Liegen auf dem Rücken über das Liegen auf dem Bauch und das Krabbeln zum Stehen kommt. Diese Ent-wicklung entwächst ihm gleichermaßen, ohne dass eine Unterstützung von außen notwendig wäre. Vielmehr verhält es sich so, dass „Hilfe“ diesen Prozess stört. Das Gefühl, autonom etwas erreicht zu haben, etwa das freie Stehen oder Sitzen, kann nicht ausreichend erlebt werden, wenn dabei „nachgeholfen“ wird, indem Kinder beispielsweise im Kindersessel, mit Polstern unterstützt, aufgesetzt werden oder wenn sie an der Hand hochgezogen und geführt werden. Solch ein Verhalten bewirkt im Erleben des Kindes auch eine zunehmende Abhängigkeit, die sich mehr und mehr verstärkt, wenn jegliche Hindernisse (etwa ein weiter weg liegendes Spielzeug oder ein am Boden liegender Baum­stamm) mit Hilfe der Erwachsenen überwunden werden.

LERNEN LERNEN

,,Dieser Prozess des Lernens spielt eine sehr wichtige Rol­le im ganzen späteren Leben des Menschen. Durch diese Art der Entwicklung gelangt der Säugling selbständig, mit geduldiger, ausdauernder Arbeit, mit Sammlung seiner ganzen Aufmerksamkeit zu seinem Können. Er erlernt also im Lauf seiner Bewegungsentwicklung nicht nur, sich auf den Bauch zu drehen, nicht nur das Rollen, Kriechen, Sitzen, Stehen und Gehen, sondern er lernt auch das Lernen. Er lernt, sich selbständig mit etwas zu beschäftigen, an etwas Interesse zu finden, zu probieren, zu experimentieren. Er lernt, Schwierigkeiten zu überwinden. Er lernt die Freude und die Zufriedenheit kennen, die der Erfolg – das Resultat seiner geduldigen, selbständigen Ausdauer – für ihn bedeutet.“ (Emmi Pikier)

IM MITTELPUNKT STEHEN

Auch ein ständiges In-den-Mittelpunkt-Stellen des Kindes und seiner gerade eben erworbenen Fähigkeiten behindert nicht nur die autonome Entfaltung. Das Kind verliert desgleichen seine Natürlichkeit und beginnt, sich am Beifall der anderen zu orientieren. Das Kind entfernt sich zunehmend von seinen eigenen Impulsen und Bedürfnissen hin zu denen der anderen.

WIR VERÄNDERN DEN FOCUS

,,Wir hindern das Kind, wenn wir es ermuntern, anspornen, auffordern, gewisse Bewegungen vorzuführen. Wenn wir seine einzelnen ‚Leistungen‘ vor ihm übertrieben anerkennen. ( . .) Die Aufmerksamkeit des Kindes wird abgelenkt von den Versuchen, von dem Experimentieren mit Bewegungen und wird stattdessen darauf gerichtet, dass das, was es macht, Publikumswirkung hat. ( . .) Das Kind wird auf diese Weise nicht das üben, was seiner Entwicklung, seinem jeweiligen Zustand entspricht, nicht das, was es selbst erfreut, sondern das, wovon es annimmt, dass es dem Erwachsenen gefällt.“ (Emmi Pikier)

DAS KIND BESPIELEN

Durch diesen geringer werdenden Kontakt zu sich selbst wird in weiterer Folge auch das freie Spiel schwie­riger oder unmöglich, vor allem dann, wenn das Kind zusätzlich häufig „bespielt“, ,,amüsiert“ und/oder mit Spielzeug überhäuft wurde. Normalerweise spielt ein Kind, auch schon der Säug­ling, über lange Zeiten mit allen möglichen einfachen Gegenständen, die gerade um es sind und widmet ihnen seine volle Aufmerksamkeit. Ebenso vertieft es sich über Monate und Jahre immer wieder in seine eigenen Bewegungen und Bewegungsmöglichkeiten. Dieses zufriedene Mit-sich-im-Einklang-Stehen wird jedoch gestört, wenn dem Kind, ohne auf seine momentane Befindlichkeit und sein Tun zu achten, ständig neue Eindrücke aufgedrängt werden, wenn es immer wieder umringt ist von über ihn hinweg sprechenden, auf es einredenden, es in den Mittelpunkt stellenden Erwachsenen.

INNERE ABKEHR

„Höchst bezeichnend für einen solchen Säugling ist, dass er mit der Zeit immer quengeliger wird, an den Erwachsenen krankhaft klebt. Nur die Erwachsenen interessieren ihn, aber auch nur insofern sie um ihn herum sind, von ihm reden, sich mit ihm beschäftigen. All dies löst beim Kind aber keine gleichmäßige, harmonische, dauernde, ruhige Freude und Zufriedenheit aus, vielmehr Unruhe, aufregenden Genuss. ( . .) Unausweichlich werden diese Eltern des Kindes überdrüssig, schon darum, weil das Kind – infolge des Benehmens der Eltern – gelangweilt, grantig, anmaßend geworden ist. ( . .) Es verliert die Natürlichkeit, die unbewusste Anmut. “ (Emmi Pikier)

BEOBACHTEN WAS STIMMIG IST

Wenn es also darum geht, die Entfaltung und das Wohlbefinden des Kindes zu ermöglichen, so muss der Erwachsene auf das achten, was dem Kind wirklich entspricht, beobachtend, wann es in eine Tätigkeit vertieft ist und keine Unterhaltung braucht und welche Art des Miteinanders stimmig ist. Und in den Momenten des Kontaktes, etwa bei Pflegesituationen, beim Stillen oder Füttern, ist es wesentlich, dass die Bezugsperson mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit beim Kind ist, so dass ein authentischer Austausch entsteht. Dann kann sich das Kind, emotional „gesättigt“ und zufrieden, wieder seinem Spiel zuwenden.

ES BRAUCHT KEINE SHOW

,,Wir müssen das Kind nicht ‚immerfort unterhalten‘, ‚umtanzen‘, mit ,kindischem‘ Lispeln, mit schwärmerischem Entzücken überhäufen. Wir müssen unsere Kinder unsere Liebe fühlen lassen, indem wir sie gut versorgen. “ (Emmi Pikier)

KEINE BELEHRUNGEN

Diese wachsame Präsenz des Erwachsenen ist auch in der Kreativitätsentwicklung von Bedeutung. Das Kind verfügt über ein natürliches, angeborenes Potential, wie Arno Stern in seinen Forschungen erkannte, Prozesse, die bei allen Kindern in ähnlicher Weise geschehen.

Um dieser Beobachtung auf den Grund zu gehen, bereiste er verschiedenste Länder und Kulturkreise und stellte fest, dass überall gleiche Bildelemente zu sehen waren. Diese bei allen Kindern vorkommenden Komponenten nannte er Formulation.

Diese natürliche Entfaltung eines eigenen, differenzierten, mit der Selbstwirksamkeit des Kindes im Einklang stehenden Ausdrucks vollzieht sich aber nur dann, wenn es keine Belehrung gibt, kein Hineindrängen in Entwicklungsschritte, bei denen das Kind noch nicht angelangt ist.

Wenn das Kind seine ersten Kreise zu ziehen beginnt und später, wenn es seine inneren Welten auf Papier gestaltet, stehen das Bewundern und Staunen – und mehr noch das Verbessern, das Anleiten und Interpretieren (,,Du hast eine Sonne gemalt“ usw.) – seiner Kreativität im Wege.

Vielmehr geht es darum, als aufmerksamer Erwachsener dabei zu sein und dem Kind anzubieten (Papier, Stifte, Farben), was es für seine Gestaltungen braucht und auch, so wie es im Malort geschieht, darauf zu achten, dass die/der Malende „im Fluss“ bleiben kann, indem der Malortleiter herabrinnende Tropfen entfernt, die Reißnägel, mit denen das Papier befestigt ist, immer wieder versetzt, Farben nachfüllt, die Ordnung der Pinsel kontrolliert und die Klarheit der vorbereiteten Umgebung im Gesamten aufrechterhält.

So kann eine freie Spur entstehen, die fließt und in keinerlei Abhängigkeit von einem Betrachter hervorgebracht wird, denn das Wesentliche des Malortes liegt vor allem auch darin, dass die Kinder, aber auch malende Erwachsene, keinen Belehrungen und Kommentaren ausgesetzt sind. Andernfalls kann es zu Blockierungen, Verunsicherungen, zu einer Ausdrucksverarmung führen oder auch dazu, dass gar keine Kreativität mehr stattfindet.

,,Die reine Äußerung wird zu einem zweifelhaften Ergebnis verdorben. Das Kind erlebt nicht mehr ein Spiel, es spekuliert auf Erfolg. Was dabei verloren geht, ist unermesslich.“ (Arno Stern)

UNBEEINFLUSSTE SCHÖPFERISCHE PROZESSE

Erkennbar ist dies unter anderem daran, dass Kinder fragen: ,,Was soll ich malen? Ist das richtig so? Wie malt man dies oder jenes?“ Da beim Malen und Zeichen ähnliche innere Prozesse stattfinden wie beim Spielen, fragen Kinder normalerwei­se nicht danach, ob etwas richtig oder falsch sei, genauso wie sie im Rollenspiel nicht danach fragen würden, ob sie diese oder jene Figur „richtig“ gespielt haben. Wird die natürliche, unbeeinflusste Äußerung ermög­licht, dann stehen Können und Wollen im Einklang, der Zugang zum eigenen schöpferischen Prozess ist nicht un­terbrochen und das Kind kann das Malspiel erleben. Es breitet seine Welt mit den in ihm angelegten Requisiten auf dem Blatt aus – es gestaltet und entfaltet das Eigene.

,,Im Raum des Blattes entwachsen der Gebärde des Kindes Gebilde, die seine Geschöpfe sind. Das Kind ist mit jedem verbunden, so als seien sie lebendige Teile seines We­sens. Was sich im Raum des Blattes abspielt, geschieht in Wirklichkeit im Wesen des Kindes.“ (Arno Stern)

Das Malen als „Malspiel“ erleben zu können und sich frei von den Erwartungen anderer entwickeln zu dürfen bedeutet, sich selbst im eigenen Rhythmus aufzubauen. Es wird auf diese Weise ein innerer Schatz angelegt, der als lebendige Ressource erhalten und verfügbar bleibt.

Sowohl Emmi Pikler als auch Arno Stern haben in ihrer jahrelangen Begleitung von Kindern, wenn auch in unterschiedlichen Bereichen, etwas sehr Wesentliches erleben und erfahren können: Kinder brauchen uns Erwachsene nicht als jemanden, der ihre Entwicklung vorantreibt, sondern als Menschen, die darauf vertrauen, dass sie sich aus sich selbst heraus entfalten können.

Literaturhinweise:
Emmi Pikler: Friedliche Babys – zufriedene Mütter (Herder spektrum)
Emmi Pikier u. a.: Miteinander vertraut werden (Arbor Verlag)
Arno Stern: Das Malspiel und die natürliche Spur (Drachen Verlag)
Arno Stern: Der Malort (Daimon Verlag)

Videobeitrag:
Formulation und Spur, Arno Stern